Freie Beweiswürdigung und spektakuläre Fehlurteile
Manfred Genditzki, Gustl Mollath, Harry Wörz, Monila de Montgazon, Tatjane Gesell und Bauer Rupp
In einem Strafverfahren geht es nur nachrangig um die Anwendung des Rechts. Im Mittelpunkt sollte zuallererst die fehlerfreie Feststellung eines Sachverhalts stehen. Ob aber ein Strafrichter einer eloquent vorgetragenen Zeugenaussage zur Entlastung des Angeklagten glaubt oder auch nicht glaubt, ist nirgends geregelt. Weder vom Gesetz noch von der Rechtsprechung sind Regeln vorgegeben, wie dieser Sachverhalt vom Strafrichter festgestellt werden soll. Eine fundierte Ausbildung, Falschaussagen zu erkennen, hat der Strafrichter während seines Studiums auch nicht erhalten. Ein Strafrichter verweist hier auf den Grundsatz der freien Beweiswürdigung. Frei bedeutet hier, es gibt keinerlei Maßstab, keine Messgeräte und damit auch keinerlei Fehlerkontrolle für die Beweiswürdigung des Strafrichters. Erlaubt ist was gefällt.
Im Extremfall kann diese freie Beweiswürdigung dazu führen, dass ein Strafrichter Polizeibeamten immer und ausnahmslos, weibliche Richter eher weiblichen Zeugen, männliche Richter nur männlichen Zeugen glauben - und einen rumänischen Angeklagten, der wegen Diebstahl angeklagt ist, grundsätzlich nie geglaubt wird. Lebensfremd, aber das Tagesgeschäft in der Strafjustiz.
Laut Bundesgerichtshof obliegt die Deutung ambivalenter Sachverhalte aber alleine dem Strafrichter. Alles, was logisch möglich ist, ist deshalb rechtens, selbst wenn es anderen völlig lebensfremd erscheint. Der Bundesgerichtshof sagt dazu, dass die Aufgabe, sich auf der Grundlage der vorhandenen Beweismittel eine Überzeugung vom tatsächlichen Geschehen zu verschaffen, grundsätzlich allein dem Tatrichter obliegt. Seine Beweiswürdigung hat das Revisionsgericht regelmäßig hinzunehmen und es ist dem überprüfenden Gericht verwehrt, sie durch eine eigene zu ersetzen.
Wenn sich im Vorgarten einer Prominentenvilla im Fränkischen, dem Tatort eines Raubüberfalls, Einkaufstüten mit rumänischem Aufdruck und Kleidungsstücke mit unbekannter DNA finden, deren Analyse auf Menschen aus Rumänien hinweisen, so kann der Strafrichter die beiden bestreitenden deutschen Angeklagten dennoch revisionssicher mit der Begründung verurteilen, sie haben bewusst von ihnen ablenkende Spuren gelegt. Wenn sich ein Jahrzehnt später, wie im Fall von Tatjana Gsell, die im Jahr 2004 vom Amtsgericht Nürnberg verurteilt wurde, weil sie angeblich einen Überfall auf die Villa ihres Mannes vorgetäuscht haben soll, doch die richtigen und geständigen rumänischen Täter finden, wird dieses Fehlurteil von der Strafjustiz achselzuckend als Kollateralschaden untätig hingenommen.
Anstatt nun alles daranzusetzen, die Verurteilte schnell zu rehabilitieren, zog sich das Wiederaufnahmeverfahren dann quälend lange über 6 Jahre, um schließlich nicht in einem Freispruch, sondern lediglich in einer Einstellung zu enden, gegen die kein Rechtsmittel möglich ist, da man nicht beschwert sei und damit sogar eine Entschädigung für die erlittene Untersuchungshaft ausschlossen ist.
Hier zeigt sich besonders deutlich der strukturelle Fehler von Strafverfahren, bei denen die materielle Wahrheitsfindung, also das, was tatsächlich passiert, in den Hintergrund verdrängt wird durch eine prozessuale forensische Wahrheitsfindung, also das, was passiert sein könnte, die mit dem Rechtsmittel der Revision nicht angegriffen werden kann.